Blick vom Bogenberg zum Donauhafen Straubing-Sand
Es kommt ein Schiff
Zu unserer Pfarrei Ittling gehört der Donauhafen Sand. 1996 wurde er als wesentlicher Bestandteil des Industriegebiets Straubing-Sand eröffnet und stellt inzwischen einen wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Stadt Straubing, den Landkreis Straubing-Bogen und die gesamte Region dar. So besitzen wir ganz unmittelbar eine Ahnung davon, welche Bedeutung ein Hafen hat. Der Donauhafen Sand steht topografisch in Beziehung zur unweit gelegenen Wallfahrtsstätte Bogenberg, die als Kultbild die „Muttergottes in der Hoffnung“ in sich birgt. Es ist nicht zu weit hergeholt, wenn wir auch gedanklich diese Verbindung zwischen dem Hafen und dem Gnadenort herstellen mittels eines Advents-und Weihnachtsliedes aus dem Mittelalter.
Der zu Straßburg geborene Dominikanermönch Johannes Tauler (1300-1361) lebte und wirkte in Basel und in Köln am Rhein. Er kannte aus eigenem Erle-ben die freudige Erwartung, wenn ein Schiff auf dem Strom seiner Ankunft zusteuert, schließlich eintrifft und seine Ladung im Hafen löscht. Beeindruckt von dieser Erfahrung aus seiner Lebenswelt, schrieb Johannes Tauler das Lied „Es kommt ein Schiff geladen“, das wir in adventlich-weihnachtlicher Zeit anstimmen. Es steht im Gotteslob Nr. 236:
Es kommt ein Schiff, geladen
bis an sein’ höchsten Bord,
trägt Gottes Sohn voll Gnaden,
des Vaters ewigs Wort.
Das Schiff geht still im Triebe,
es trägt ein teure Last;
das Segel ist die Liebe,
der Heilig Geist der Mast.
Das Segel ist die Liebe
Die Melodie des Liedes weist eine rhythmische Besonderheit auf. Die beiden ersten Zeilen einer Strophe stehen im 6/4-Takt, der an das stete Dahingleiten eines großen Schiffes auf dem Strom gemahnt, die beiden letzten jedoch im mehr bewegten, auf dessen nahende Ankunft hinweisenden 4/4-Takt. Der besagte Rhythmuswechsel kann auch dahingehend gedeutet werden, dass sich darin die inhaltliche Zweiteilung der drei Strophen widerspiegelt. In der ersten Hälfte wird jeweils ein Bild vorgestellt, dessen geistliche Bedeutung in der zweiten Hälfte der Strophe erschlossen wird.
Das Weihnachtsschiff ist unterwegs zu uns. Am Horizont unserer Gedanken und Gefühle will dieses Bild im langsam aufsteigen in unserem Bewusstsein: Es kommt ein Schiff, „geladen bis an sein höchsten Bord“ und bringt Menschen in ihren großen Erwartungen zusammen, verbindet die Welten.
Das Schiff, von dem das Lied singt, hat es in sich. Seit jeher ist es ein Sinnbild für die schwangere Frau: Es trägt „Gottes Sohn voll Gnaden“, gleich der Gottesmutter Maria. Schon ihr Name ist mit dem weiten Meer verbunden. Als „maris stella“ – Meeresstern – wird die Gottesmutter verehrt. Mit dem Schiff – so kann man das Lied deuten – kommt Gott selbst von weit her, um seine Menschlichkeit zu zeigen, seine Gnade anzusagen und auszubreiten, sein Wort zu halten. Eine neue Zeit kündigt sich an: Das Kind als „teure Last“ auf dem Schiff steht dafür.
Noch ist dieses Schiff nicht im Hafen angekommen. Aber es trifft ganz bestimmt ein, denn eine ungeheure Dynamik treibt es dem Bestimmungsort entgegen: „Das Segel ist die Liebe“. Gottes Liebe sucht mit heiliger Leidenschaft den Menschen in der Kraft des Heiligen Geistes.
Gott kommt auf uns zu
Johannes Tauler spricht in der dritten Strophe seines Liedes davon, was schließlich folgt: Dass das Weihnachtsschiff vor Anker geht, nach langer Fahrt in den sicheren Hafen einläuft. Das sind Bilder einer tiefen Sehnsucht nach Erfüllung. Wir möchten nicht nur innig warten, sondern auch spüren: Die göttliche Zuwendung trifft ein und bleibt. Das Bild des Ankers steht für diese Hoffnung. Wenn dieser geworfen ist, dann ist das Schiff angekommen: „Der Anker haft‘ auf Erden, da ist das Schiff am Land“. Gottes Liebe macht sich fest in dieser Welt: „Das Wort will Fleisch uns werden, der Sohn ist uns gesandt.“ Das liebende Wort Gottes besucht uns in Jesus Christus, einem Menschen aus Fleisch und Blut. Er macht gleichsam Gottes Wohlwollen und Anmut sichtbar in dieser Welt. So wird Gottes Wort gnadenhaft lebendig und wirk-sam. Wenn wir Advent feiern, dann nehmen wir die von innerer Freude und Spannung geprägte Stimmung des Liedes in uns wahr: Zielpunkt ist Weihnachten, die Menschwerdung Gottes. Dieses Geheimnis der Weihnacht ist keine erledigte Geschichte aus längst vergangenen Tagen – früher einmal geschehen. Johannes Tauler will uns mit seinem Lied daran erinnern: Das Schiff kommt auf uns zu, hier und heute; überall, wo Menschen sich in der Tiefe ihres Herzens anrühren und ansprechen lassen.
Donauhafen Straubing-Sand
Wallfahrtskirche Bogenberg mit Gnadenbild